Das Halbleiter-Ökosystem in Ost­deutschland ist vielfältig und international von Bedeutung

Ein Interview mit Dr. Werner Wilke, Geschäftsführer der VDI/VDE-IT Innovationsagentur

Dass Intel künftig in Magdeburg Chips produzieren wird und Infineon die eigene Fertigung in Dresden deutlich ausbaut, waren zwei der spektakulärsten Nachrichten der letzten Zeit zu Industrieansiedlungen in Ostdeutschland. Im Gespräch mit Dr. Werner Wilke wollten wir u.a. erfahren, ob die jüngste Chipkrise angesichts steigender Produktionskapazitäten wirklich vorbei ist und wie groß er das Potenzial von Industrie- und Forschungsclustern in Ostdeutschland einschätzt.

Als Partner des OWF wird VDI/VDE-IT Innovation + Technik Gastgeber eines Workshops zu Chipkrise & Mikroelektronik sein und wir freuen uns darauf, die Potenziale der Technologie und der Branche in Bad Saarow zu diskutieren!

Herr Wilke, Corona, der Krieg in der Ukraine, Fehlprognosen der Nachfrage – die Halbleiter-Krise hat die deutsche und globale Wirtschaft zuletzt voll erwischt. Sehen Sie eine Trendwende?

Die Chipkrise hat uns überdeutlich die Abhängigkeit der Industrie von der Versorgung mit Halbleitern offenbart. Aktuell kann man in den meisten Bereichen der Halbleiterindustrie aber nicht mehr von einer Krise sprechen. Die Lage hat sich entspannt. Teilweise gab es direkt nach der Mangellage sogar ein Überangebot. Die letzten Jahre zeigen, dass es mehr als früher sowohl bei der Nachfrage, als auch innerhalb der Wertschöpfungskette zu Überraschungen kommt. Ein derart global optimiertes System wie die Produktion von Halbleitern kann nur begrenzt Schwankungen kompensieren. Es wird deshalb intensiv daran gearbeitet die Resilienz zu erhöhen, um nicht durch relativ kleine Störungen wieder in die nächste Krise zu rutschen.

Liegen die Standorte Europa und Deutschland im internationalen Wettbewerb zurück?

Pauschal kann man dies so nicht sagen. Deutschland und Europa haben viele Vorteile: die öffentliche Infrastruktur. Europa ist geologisch, klimatisch und politisch sehr stabil. Wir haben ein sehr gut vernetztes Ökosystem mit einer starken Forschung. Natürlich gibt es auch Nachteile. Auch wenn sich die Energiekosten wieder normalisiert haben, wird Deutschland absehbar kein Standort mit im internationalen Vergleich sehr niedrigen Strom- und Gaspreisen. Auch viel Bürokratie und Hürden für Fachkräfte aus dem Ausland sind ein Thema. In der Halbleiterbranche ist auch die Verfügbarkeit von Fördermitteln ein wesentlicher Standortfaktor – zwar nicht allein entscheidend, aber ohne geht es nicht. International sind Fördermittel für die Branche gängig und üblich. Dem können und dürfen wir uns hier nicht verschließen.

Müssen wir uns als Industrienation unabhängiger von internationalen Zulieferern der Chip-Industrie machen?

Zunächst einmal müssen wir uns der Abhängigkeiten bewusstwerden, um klug mit diesen umzugehen. Gerade in der Halbleiterindustrie war die Globalisierung der vergangenen 30 Jahre eine einzige Erfolgsgeschichte. Nur so war es überhaupt möglich, dass Halbleiter derart leistungsfähig und trotzdem billig wurden, dass wir sie heute so breit einsetzen können. Grundlage war natürlich eine global weitgehende Freiheit für die Unternehmen. Nun, die Rahmenbedingungen haben sich international geändert. Es gibt neue – jetzt auch geopolitische – Risiken, etwa mit Blick auf den Standort Taiwan und mögliche Konflikte mit China. Vor diesem Hintergrund gilt es, mögliche negative Folgen für uns als Industrienation zu reduzieren. Dies bedeutet vor allem, dass man einseitige Abhängigkeiten vermeidet. Die Halbleiterindustrie ist ein sehr komplexes globales Netzwerk – und wird dies auch bleiben. Dieses Netzwerk an die neuen Herausforderungen anzupassen, sollte das Ziel sein.

Also machen wir unsere Volkswirtschaft am besten gleich autark?

Wir werden uns als Exportnation anpassen können, aber nie autark werden. Gerade im Bereich der Halbleiterindustrie halte ich das für unrealistisches Wunschdenken. Das Geschäft ist auf internationale Zusammenarbeit angelegt. Autarkie eines Landes oder einer Region wäre nur zu astronomischen Kosten zu haben und deshalb volkswirtschaftlich unsinnig. Das Ziel lautet: Souveränität. Dies bedeutet gerade nicht Autarkie, sondern die Möglichkeit selbst mitgestalten und Einfluss auf Entwicklungen nehmen zu können. Das heißt: Die Freiheit zu haben, wirtschaftlich selbst agieren zu können und nicht durch Entscheidungen anderer bestimmt zu werden. Dies setzt voraus, dass man in einem globalen Netzwerk der Halbleiterwertschöpfungskette eine wesentliche Rolle spielt. Der European Chips Act zielt ja gerade auf diese Stärkung der eigenen Position in einem weiter globalen Netzwerk ab.

Die Branche gilt als zyklisch…

Ja – der berüchtigte „Schweinezyklus“. Die Zyklen sind komplexer als früher. Heute stecken Halbleiter in so vielen Produkten, dass es nicht mehr reicht, einige wenige Anwendungsfelder wie Computer oder Mobiltelefone zu betrachten, um gute Prognosen zu erstellen. Allerdings schwingt sich der Markt über lange Zeit kontinuierlich nach oben. Das heißt, in eigentlich allen Bereichen wie Leistungselektronik, Halbleitersensorik, Logik oder Speicher braucht es trotz der Schwankungen langfristig immer mehr Kapazität, um mit den Bedarfen durch Megatrends wie Digitalisierung, Künstliche Intelligenz oder Elektrifizierung von Industrie und Verkehr Schritt zu halten.

Chip-Hersteller verdienen in guten Jahren hervorragend. Gerade treibt der Boom Künstlicher Intelligenz das Geschäft. Das sind doch gute Voraussetzungen für erfolgreiche Innovationsarbeit der Branche. Brauchen wir hier überhaupt staatliche Förderung?

In guten Jahren brauchen wir sicherlich keine Subventionen. Der Grat ist aber schmal. Sobald ein Unternehmen nicht nahe an der Vollauslastung ist, kann sich die Lage sehr schnell drehen. Unternehmen sind also aufgrund des Risikos sehr vorsichtig mit dem Aufbau neuer Kapazitäten – gerade, weil es trotz eines langfristig wachsenden Marktes auch Zyklen mit Abschwüngen gibt. Wenn die Kapazität aber zu spät aufgebaut wird, kommt es schnell zur Chipkrise.

Welche Rolle spielt Ihr Unternehmen in diesem Kontext?

Wir haben die Fachexpertise in diesem komplexen Thema, ohne dass wir selbst Marktteilnehmer in der Halbleiterindustrie sind. Diese Expertise stellen wir unter anderem öffentlichen Auftraggebern zur Verfügung. Und dazu bringen wir das erforderliche Know-how mit, um die entsprechende Förderung auch effizient abzuwickeln.

Was wiegt schwerer: die betriebswirtschaftlichen Kosten bei Leerlauf angesichts von Überkapazitäten oder die volkswirtschaftlichen Kosten einer Versorgungskrise?

Naturgemäß sieht der Hersteller das anders als der Abnehmer – oder Politiker, der eine prosperierende Volkswirtschaft unterstützen möchte. Leerlauf können sich die Chip-Konzerne kaum leisten. Grundsätzlich kann man mit einer öffentlichen Förderung des Aufbaus von Kapazitäten, wie wir es gerade in Ostdeutschland wieder erleben, das Risiko einer Versorgungskrise reduzieren. Volkswirtschaftlich kann das günstiger sein, als die Folgen einer Chip-Krise zu finanzieren. Der Teufel liegt wie so oft im Detail. Dauerhaften Leerlauf zu subventionieren macht auch keinen Sinn. Ich wiederhole: Das Ziel lautet Souveränität. Die sollten wir uns etwas kosten lassen.

Der Präsident des Wirtschaftsforschungsinstitutes ifo meint: „Wohlstand schafft man nicht, indem man Konzerne mit Subventionen päppelt. Er entsteht durch Unternehmen, die Steuern zahlen.“ Hat Clemens Fuest recht?

Unwirtschaftliche Firmen zu päppeln, ist nie ein guter Ansatz. Es kann aber sinnvoll sein, eine solch spezifische Branche wie die Halbleiter-Industrie gezielt zu unterstützen, damit die Risiken für die darauf angewiesenen Industrien im Rahmen bleiben. Die Autobranche hat dies zuletzt in Deutschland zu spüren bekommen – und von der leben wir hier immer noch sehr gut. Aber klar: Es besteht immer eine Gefahr des Subventionswettlaufs der Weltregionen und das darf natürlich nicht passieren.

Ostdeutschland hat sich – auch mit Hilfe von staatlicher Förderung – zu einem Hotspot für Chips entwickelt. Eine Erfolgsstory?

Durchaus. Das Halbleiter-Ökosystem in Ostdeutschland ist heute sehr vielfältig und international von Bedeutung. Das sind große Unternehmen einer Zukunftsbranche, die auch eine erhebliche regionale Wirkung haben. Das schafft und sichert sehr viele Jobs. Allein in Dresden sitzen bald fünf verschiedene Halbleiter-Produzenten an einem Standort. Betrachtet man das Dreieck Dresden, Erfurt, Magdeburg hat man eine enorme Zahl relevanter Player in direkter räumlicher Nähe – zusammen mit einer sehr interessanten Forschungslandschaft. In dieser Form ist das einmalig. Durch diese Vielfältigkeit ist der Standort Ostdeutschland auch robust aufgestellt gegenüber Schwankungen und weniger abhängig als es ein Megastandort mit nur einer Firma wäre.

Schafft die Halbleiterbranche absehbar blühende Landschaften in den ostdeutschen Bundesländern?

Gerade Dresden beweist, dass man mit Mut und Anstrengung in Ostdeutschland Zukunftsindustrien im großen Maßstab entwickeln und verankern kann. Zeigen Sie mir ein vergleichbares Beispiel der letzten 20 Jahre in Deutschland. Dresden prosperiert schließlich gerade auch wegen der starken Halbleiterindustrie. Hier ist es gelungen einen wirklich potenten Wirtschaftszweig aufzubauen. Der Chipstandort Ostdeutschland hat heute jede Menge Potenzial: Bei Halbleitern muss man dranbleiben und darf das Thema nicht laufend in Frage stellen.

Herr Wilke, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Das Unternehmen VDI/VDE-IT

Wenn es um fundiertes Wissen für Entscheidungsgrundlagen geht, um das Management komplexer Projekte oder um die Durchführung von Förderprogrammen bietet die gemeinsame Tochter des Vereins Deutscher Ingenieure sowie des Verbandes der Elektrotechnik Elektronik Informationstechnik passgenaue Lösungen und kundenorientierten Services an. Dazu stehen mehr als 1.000 Expert:innen aus Natur-, Sozial-, Wirtschafts-, Ingenieurs-, Gesellschafts-, Verwaltungs- und Rechtswissenschaften mit frischen Ideen bereit. Der Bereich Elektronik- und Mikrosysteme ist für Bundes- und Landesministerien aktiv, unterstützt die Weiterentwicklung von Technologien und Anwendungen der Mikroelektronik, Mikrosystemtechnik und Energietechnik. Dazu werden Förderprogramme konzipiert, Projektvorschläge bewertet und Erfolge evaluiert. Der Fachbereich ist nicht nur am Hauptsitz Berlin, sondern auch mit einer Geschäftsstelle in Dresden aktiv.

Zur Person

Dr. Werner Wilke, Jahrgang 1959, schloss 1985 als Diplom-Physiker sein Studium der Physik mit den Schwerpunkten Festkörperphysik, medizinische Physik und Astrophysik an der Technischen Universität Berlin ab. Seine anschließende Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Oberflächenphysik am Fritz-Haber-Institut der Max-Planck-Gesellschaft beendete er 1989 mit der Promotion zum Dr. rer. nat. an der Technischen Universität Berlin. Ab 1990 leitete er die Abteilung Product Management der deutschen Tochter Auergesellschaft der Mine Safety Appliances MSA, Pittsburgh/USA und war ab 1991 Handlungsbevollmächtigter. Seit 1995 ist er bei der VDI/VDE-IT tätig und seit 1999 gemeinsam mit Peter Dortans Geschäftsführer.

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